Einleitung
FACES OF EUROPE
Daughters remember their Mothers, Prisoners of the Ravensbrück Concentration Camp
75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind nur noch wenige Zeitzeugen unter den Lebenden. Es sind jetzt die Töchter, Söhne und Enkel, die sich mit dem Erbe ihrer Eltern und Großeltern befassen. Auch im 1965 gegründeten Internationalen Ravensbrück Komitee haben die ehemaligen Häftlinge des Frauenkonzentrationslagers den Staffelstab der Erinnerung weitgehend in die Hände der zweiten und dritten Generation übergeben.
Dieser Generationenwechsel vollzieht sich in einer Zeit, in der Europa mit neu aufflammenden Nationalismen konfrontiert ist; neue Trennlinien und Grenzziehungen beunruhigen und erschweren die Verständigung. Dagegen möchten das Internationale Ravensbrück Komitee und die Gedenkstätte Ravensbrück das Gemeinsame der Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in den Blick nehmen und zum Dialog zwischen den europäischen Nationen einladen. In Ravensbrück waren etwa 120 000 Frauen inhaftiert. Für diese, aus rassistischen und politischen Gründen verfolgten Frauen war in einem Europa unter nationalsozialistischem Vorzeichen kein Platz vorgesehen – in Ravensbrück fand sich so ‚das andere Europa‘ zusammen. Der Prozess der europäischen Verständigung ist eine Antwort auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges. Das Komitee, das bis heute einmal jährlich in einer der europäischen Städte zusammentritt, wurde 1987 von der UNO als „Botschafter des Friedens“ ausgezeichnet.
Seit seiner Gründung sind im Komitee Überlebende des KZ Ravensbrück bzw. ihre Töchter, ein Sohn und zahlreiche Enkel aus allen Teilen Europas vertreten. Die heute noch im Komitee aktiven Überlebenden waren als Kinder mit ihren Müttern nach Ravensbrück deportiert worden. Die Idee einer gemeinsamen Ausstellung des Komitees und der Gedenkstätte entstand während des Jahrestreffens im Mai 2019 in Gorizia, Italien: Gezeigt werden große Portraitaufnahmen der Mütter und Großmütter der heutigen Komitee-Mitglieder aus dreizehn Ländern. Von Roza Kugelman und Anna Burger, die während der Lagerhaft ums Leben gekommen sind, werden Aufnahmen aus der Zeit vor der Inhaftierung gezeigt. Die übrigen Portraits stammen aus den späten 1940er und frühen 50er Jahren. Die Töchter, ein Sohn, die Enkel und fünf Freundinnen kommentieren diese Fotografien.
Warum Aufnahmen der Frauen aus der Nachkriegszeit? Jugendliche von heute haben Überlebende der nationalsozialistischen Lager vor allem als freundliche, ältere Menschen kennen gelernt, die ihnen in Schulen und in den KZ-Gedenkstätten von ihrer Verfolgung berichtet haben. Bekannt sind auch die Fotografien von der Befreiung der Lager, auf denen die Häftlinge meist abgemagert und kahlgeschoren, in gestreifter Kleidung zu sehen sind. Die Frauen wurden in den Lagern ihrer Würde beraubt. Gerade das Scheren der Haare erfuhren sie als schockierenden Verlust ihrer Weiblichkeit. Die Fotografien aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern stehen heute für den Tiefpunkt der Zivilisationsgeschichte. Dass nach der Befreiung Überlebende einen Neuanfang suchten – meist nach einer Rückkehr in ein traditionell geprägtes Umfeld, das sich wenig um ihre Geschichten kümmerte, oder aber nach der Emigration in ein fremdes Land – all das sagen weder die einen noch die anderen bekannten Fotografien.
In Osteuropa hatte die deutsche Wehrmacht Städte und Dörfer dem Erdboden gleich gemacht. Diejenigen, die Ravensbrück überlebten, kehrten zumeist in eine zerstörte Welt zurück. Die KZ-Haft galt zunächst einmal als ein abgeschlossenes Kapitel, über das kaum gesprochen wurde. Die Mädchen und Frauen suchten ihre Extremerfahrungen durch den Beginn eines neuen, eines normalen Lebens möglichst schnell hinter sich zu lassen. Viele von ihnen heirateten. Vor diesem Hintergrund kann man die Portraitaufnahmen, die die Frauen einige Jahre nach der Befreiung anfertigen ließen, als ein Zeichen des Sieges lesen: Wir haben es geschafft! Die Spuren des durchlittenen Elends sind kaum noch zu sehen, wir sind angekommen in der neuen Zeit.
„Ich lebe erneut, erstehe auf von den Toten, lasse das Elend hinter mir (…), schlafe normal, esse Brot, trinke in vollen Zügen Wasser und habe nachts schwere Träume vom Lager Ravensbrück, das mir die Jugend nahm“, zitiert Hanna Nowakowska ihre Mutter Janina, die in das zerstörte Warschau zurückgekehrt war. Von den schweren Träumen und den Widrigkeiten des Lebens in der Nachkriegszeit sprechen die Fotografien weniger – in den Texten der Kinder und Enkel dieser Frauen, die wir mit der vorliegenden Broschüre den Fotografien zur Seite stellen, ist davon umso mehr zu lesen: Viele der Mütter und Großmütter führten nach ihrer Rückkehr in die Heimat ein Leben voll harter Arbeit und Entbehrungen. „Obwohl sie gern studiert hätte, fing sie eine Woche nach ihrer Rückkehr an zu arbeiten. Sie musste ihre Mutter und jüngere Schwester ernähren“, schreibt Šárka Kadlecová über ihre tschechische Großmutter. „Wir mussten ganz von vorn anfangen, wir hatten nichts“, erinnert sich auch Barbara Piotrowska, die zusammen mit ihrer Mutter aus Warschau nach Ravensbrück deportiert worden war: „Meine Mutter arbeitete und hatte mit gewaltigen Problemen zu kämpfen. Trotzdem schuf sie die Bedingungen dafür, dass ich studieren und eine Familie gründen konnte.“
Einige Töchter erwähnen auch die seelischen Wunden, die ihre Mütter in sich trugen, wie beispielsweise Vanda Straka Vrhovnik aus Slowenien: Ihr sei als Kind ihre Mutter als „eine unglaublich vergrämte Frau“ erschienen, „die nur selten lachte. (…) Sie war nach all dem Elend, das sie zu überwinden hatte, emotional erschöpft.“ Und von Sofja Iwanowna Schkatula, geboren auf der Halbinsel Krim, berichtet Natalia Timofeewa, diese habe, wie andere auch, „ihren Zorn und ihre Wut“ Kraft ihres Willens bezwungen und in ihrem Inneren erstickt.
Neben der Erinnerung an das erfahrene Leid bedeutete „Ravensbrück“ vielen Überlebenden aber noch anderes: Sie hatten im Konzentrationslager, wo Angehörige aus über 30 Nationen kaserniert waren, außerordentliche Frauen sowie neue Denkweisen kennengelernt und vor allem Solidarität erfahren. Freundschaften wurden über Ländergrenzen hinweg gepflegt, auf denen das Ravensbrück Komitee später aufbauen konnte. Ein „brüderliches Europa“ war diesen Frauen eine Selbstverständlichkeit. Viele von ihnen engagierten sich in der Nachkriegszeit politisch, traten für soziale Gerechtigkeit ein und für die Rechte der Frauen. „Jemand, der anderer Gesinnung ist als du, kann besser sein als du“, zitiert Margarita Català ihre spanische Mutter Neus Català Pallejà. Und Anne Cordier bemerkt, ihre französische Mutter habe ihre Kinder „nie zum Hass gegen Deutsche erzogen.“
In der Ausstellung sind Portraits ehemaliger Häftlinge des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück aus der Tschechischen Republik, Norwegen, Italien, Ungarn, Frankreich, Spanien, Österreich, Deutschland, Russland, Polen, Rumänien, der Ukraine, den Niederlanden und aus Slowenien zu sehen. Damit sind die Namen der heutigen Nationen genannt. De facto aber existierten viele dieser Nationen während des langen 20. Jahrhunderts nicht in dieser Form, weshalb es nicht immer einfach war, die Herkunft der Frauen auf den Begriff zu bringen. Um zwei Beispiele zu nennen: Roza Kugelman wurde 1904 in Smarhon bei Vilnius geboren, das damals zu Russland gehörte, ab 1918 dann zur Sowjetunion, seit 1921 zu Polen, nach Ende des Zweiten Weltkrieges wieder zur Sowjetunion und seit 1991 zu Weißrussland. Pavla Cedilnik kam 1925 in Gamelnje bei Ljubljana zur Welt. Damals gehörte der Ort zum Königreich Jugoslawien, das 1945 zu einer Volksrepublik wurde. Seit 1991 liegt der Ort in Slowenien. Wir haben uns daher entschlossen, nur den Geburtsort neben den Namen der Portraitierten zu nennen. Die aktuellen Namen der Nationen sind den Namen der Autorinnen und Autoren der hier versammelten Texte beigefügt.
Die Ausstellung wurde am 18. April 2021 aus Anlass des 76. Jahrestages der Befreiung des Frauenkonzentrationslagers in der Gedenkstätte Ravensbrück eröffnet. Sie ist als Wanderausstellung konzipiert und wird ab 2022 in verschiedenen europäischen Städten gezeigt werden. Diese Ausstellung dient als Forum für verschiedene Bildungs- und Diskussionsformate zu Themenschwerpunkten der NS-Verfolgung und Europa.
Wir danken allen Mitgliedern des Internationalen Ravensbrück Komitees herzlich für die Bereitstellung der Fotografien ihrer Mütter und Großmütter wie auch für ihre schriftlichen Kommentierungen der Aufnahmen. Wir danken dem internationalen Ausstellungsteam – Šárka Kadlecová, Kateřina Kočková und Stefan Osciatka aus Prag, Jeanine Bochat, Bad Schandau sowie Rüdiger Hahn und Britta Pawelke, Gedenkstätte Ravensbrück – für die großartige Arbeit der Komposition der Ausstellung. Dem Büro Interlingua, Prag danken wir für die beeindruckende Übersetzung des Projekts in sieben Sprachen. Nicht zuletzt danken wir der Beauftragten für Kultur und Medien der Bundesrepublik Deutschland und dem Land Brandenburg für die großzügige finanzielle Unterstützung dieser Ausstellung.
Dr. Insa Eschebach
Ehemalige Leiterin der Gedenkstätte Ravensbrück | Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten
Ambra Laurenzi
Präsidentin des Internationalen Ravensbrück Komitees